WIESBADEN – Nach vier Jahren Rückgang ist die Zahl der Inobhutnahmen in Deutschland erstmals wieder angestiegen. Im Jahr 2021 haben die Jugendämter rund 47 500 Kinder und Jugendliche zu ihrem Schutz vorübergehend in Obhut genommen. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) mitteilt, waren das knapp fünf Prozent mehr als im Vorjahr. Besonders stark fiel die Zunahme mit über 3.700 Fällen oder 49 Prozent bei Inobhutnahmen nach unbegleiteten Einreisen aus dem Ausland aus.
Hauptgründe bei Kindern waren meistens Überforderung der Eltern, Vernachlässigung und Gewalt! Die Zahl der Inobhutnahmen aufgrund dringender Kindeswohlgefährdungen ist zwar um 6 Prozent zurückgegangen, allerdings befürchten Kinderschützer bei Kindeswohlgefährdungen weiterhin eine sehr hohe Dunkelziffer. Zudem haben sich etwas mehr Kinder und Jugendliche als im Vorjahr mit der Bitte um Inobhutnahme selbst an ein Jugendamt gewandt.
Damit wurden 2021 insgesamt rund 28.500 Inobhutnahmen (60 %) wegen dringender Kindeswohlgefährdungen, knapp 11.300 nach unbegleiteten Einreisen (24 %) und gut 7.700 (16 %) aufgrund von Selbstmeldungen durchgeführt. Bei der Interpretation der Ergebnisse sind auch die coronabedingten Schutzmaßnahmen zu berücksichtigen: So lässt sich anhand der Daten nicht ausschließen, dass der erneute Rückgang der Inobhutnahmen aufgrund von dringenden Kindeswohlgefährdungen 2021 auch mit den allgemeinen Kontaktbeschränkungen in Zusammenhang steht. Einschränkungen im Schul- oder Kitabetrieb können zum Beispiel dazu beigetragen haben, dass ein Teil der Kinderschutzfälle unentdeckt geblieben und das Dunkelfeld dadurch gewachsen ist. Die amtliche Statistik erfasst nur jene Fälle, die den Behörden bekannt gemacht wurden.
(Durch die Ablehnung einer Regelung zum interkollegialen Austausch von Kinderärzten durch die SPD im Saarländischen Landtag wurde hier eine mögliche Verbesserung - anders als in anderen Bundesländern - verhindert. Das führte zu Recht zu ganz erheblicher bundesweiter Kritik von Kinderschutzverbänden auch an Gesundheitsminister Magnus Jung.)
Hauptgründe bei Kindern waren meistens Überforderung der Eltern, Vernachlässigung und Gewalt!
Im Kindesalter standen im Jahr 2021 andere Gründe für eine Inobhutnahme im Vordergrund als im Jugendalter. Knapp 20 200 (42 %) aller in Obhut genommenen Jungen und Mädchen waren 2021 unter 14 Jahre alt, also noch im Kindesalter. In gut der Hälfte dieser Fälle war der Anlass der Inobhutnahme die Überforderung der Eltern (53 %). Eine besondere Bedeutung kam bei den Kindern auch dem Schutz vor Vernachlässigung (26 %) und vor körperlichen (18 %) sowie psychischen Misshandlungen (12 %) zu. Etwas anders war das Bild bei den knapp 27 400 Jugendlichen von 14 bis unter 18 Jahren: Hier wurden die Inobhutnahmen am häufigsten nach unbegleiteten Einreisen aus dem Ausland eingeleitet (38 %). Eine wichtige Rolle spielten auch Überforderungen der Eltern (24 %) und allgemeine Beziehungsprobleme (12 %). Jedes achte Kind (12 %) und fast jeder dritte Jugendliche (31 %) war vor der Inobhutnahme von Zuhause ausgerissen.
Hauptgründe bei Jugendlichen: Unbegleitete Einreisen und Überforderung der Eltern
Jungen wurden 2021 mit 56 % zwar etwas häufiger in Obhut genommen als Mädchen. Dies ist jedoch ausschließlich auf den hohen Jungenanteil an den unbegleitet eingereisten Minderjährigen zurückzuführen. Ohne deren Berücksichtigung lag der Jungenanteil an allen Inobhutnahmen 2021 mit 46 % sogar knapp unter dem der Mädchen.
Die meisten Minderjährigen wurden vor der Inobhutnahme von beiden Eltern gemeinsam (25 %), einem alleinerziehenden Elternteil (22 %) oder durch ein Heim betreut (13 %). Gut jeder zweite Fall konnte nach spätestens zwei Wochen beendet werden (53 %) und sogar etwa jeder dritte innerhalb von fünf Tagen (34 %). Jede achte Inobhutnahme dauerte mit drei Monaten oder mehr jedoch vergleichsweise lang (12 %).
Der Großteil der betroffenen Kinder und Jugendlichen war während der Inobhutnahme in einer geeigneten Einrichtung, zum Beispiel einem Heim, untergebracht (80 %). Danach kehrte über ein Drittel der Jungen und Mädchen an den bisherigen Lebensmittelpunkt ? zu den Sorgeberechtigten, in die Pflegefamilie oder das Heim ? zurück (35 %). Knapp ein weiteres Drittel der Kinder und Jugendlichen bekam dagegen ein neues Zuhause in einer Pflegefamilie, einem Heim oder einer betreuten Wohnform (31 %).
Methodische Hinweise:
Die Jugendämter sind nach dem Kinder- und Jugendhilferecht berechtigt und verpflichtet, in akuten Krisen- oder Gefahrensituationen vorläufige Maßnahmen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen (Inobhutnahmen) als sozialpädagogische Hilfe durchzuführen. Sie können auf Bitte der betroffenen Kinder (§ 42 Absatz 1 Nummer 1 SGB VIII), bei einer dringenden Gefahr für das Kindeswohl (§ 42 Absatz 1 Nummer 2 SGB VIII) oder bei unbegleiteter Einreise aus dem Ausland eingeleitet werden (§ 42 Absatz 1 Nummer 3 SGB VIII). Bis eine Lösung für die Problemsituation gefunden ist, werden die Minderjährigen vorübergehend in Obhut genommen und gegebenenfalls fremduntergebracht, etwa bei Verwandten, in einem Heim oder einer Pflegefamilie.
Schutzmaßnahmen nach unbegleiteter Einreise werden, aufgrund einer Gesetzesänderung, ab dem Berichtsjahr 2017 in der Statistik differenziert nach vorläufigen Inobhutnahmen (§ 42a SGB VIII) und regulären Inobhutnahmen erfasst (§ 42 Absatz 1 Nummer 3 SGB VIII). Die Ergebnisse enthalten daher Doppelzählungen von Minderjährigen, die innerhalb eines Berichtsjahres zunächst vorläufig und später - in der Regel nach der Verteilung an ein anderes Jugendamt - regulär in Obhut genommen wurden. Im Jahr 2021 haben die Jugendämter knapp 7 300 vorläufige und rund 4 000 reguläre Inobhutnahmen nach unbegleiteter Einreise durchgeführt.
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